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Zehn Jahre lang habe ich jetzt Schulungen im Bereich Arbeitssicherheit durchgeführt, habe tausende Kranführer, Staplerfahrer und Fachkräfte für Ladungssicherung geschult. Und zu oft habe ich dabei Gemaule mitbekommen – Unzufriedenheit war herauszuhören. Erstens mit Deutschland und seiner Regierung, zweitens mit den Ingenieuren, die nicht ordentlich mit den Arbeitern in der Produktion kommunizierten, und drittens mit der Chefetage. Zum Thema Deutsche Politik kann ich, geboren in Kirgistan, ehrlich gesagt meinen Ohren nicht trauen. Zu welcher Zeit und in welchem Land würden diese Leute denn lieber leben als heute, hier in Deutschland? Zu den Ingenieuren und ihren Kommunikationsfähigkeiten kann ich nichts sagen. Aber in Bezug auf die Führungskräfte kann ich mit großer Sicherheit behaupten, dass viel Gemotze unbegründet war. Häufig habe ich nämlich genauer nachgebohrt und dabei blöde und unrealistische Ansprüche an die Chefin oder den Chef zur Antwort bekommen.
Ja, es gibt schlechte Führungskräfte. Und doch ist damit nicht alle Unzufriedenheit erklärt. Woher also so viel Unmut? Ein Stück weit würde ich die Unzufriedenheit als deutsche Eigenschaft beschreiben. Ich selbst habe in anderen Ländern und Kulturen gelebt und habe dort weniger Gemecker mitbekommen, obwohl die Lage nicht besser war als hier. Auch habe ich Fußballspiele sowohl im deutschen Fernsehen kommentiert bekommen als auch im Ausland: Der deutsche Reporter sucht immer nach dem, was nicht gepasst hat. Doch hilft diese Beobachtung nicht wirklich weiter. Wenn es eine „deutsche Tugend“ ist: Wo rührt sie her? Woran liegt es, dass vor allem die Oberen ständig kritisiert werden? Ich vermute, dass unter anderem die Frankfurter Schule hier ganze Arbeit geleistet hat. Einer ihrer wichtigsten Vertreter, Max Horkheimer, hat in seinem 1936 erschienen Artikel „Autorität und Familie“ jegliche Autorität und Unterordnung kritisiert. „In der modernen Familie [und somit auch in der modernen Gesellschaft] herrscht ein anderes Prinzip als das der Unterordnung“, gab er als Leitbild aus; Autorität sei per se schlecht. Sobald nun aber eine Führungskraft Autorität innehat, sobald sie an uns arbeitet, uns vorsteht oder gar zurechtweist, ärgert es uns, weil wir diese Autorität nicht achten – sie widerstrebt uns. Doch meiner Meinung nach wäre es nur angebracht, die Führungskräfte sowohl in ihrer Autorität als auch in ihrem Aufgabenbereich anzuerkennen. Warum?
Führungskräfte arbeiten an uns. Sie stehen uns vor und sie haben die Pflicht, uns zurechtzuweisen – in manchen Fällen ist diese Pflicht sogar gesetzlich verankert: Sie haben die Aufsichtspflicht. Das kann nerven und unangenehm sein, weil keiner von uns Kritik mag und es unseren Stolz verletzt, wenn jemand an uns arbeitet. Und dennoch ist es wichtig. Beispielhaft ist hier ein Anruf meines Chefs. Ich ging wie immer ans Telefon und mein Chef spiegelte mich: „Wenn du mit mir telefonierst, habe ich stets den Eindruck, du wolltest mich direkt wieder loswerden.“ Dieser Kommentar hat mich zunächst geärgert, aber er war angebracht. Denn für meinen Job ist es wichtig, am Hörer besser zu werden. Seine Kritik war also auch für meine Entwicklung gut.
Ich hätte ihn im Anschluss an seine Kritik vor anderen schlecht machen können – oder ich konnte ihn für sein Handeln achten. Ich wählte das Zweite. Ich habe vieles von ihm gelernt, bin ein Nutznießer seiner Entscheidungen, die er auch für mich getroffen hat. Und ich bin dankbar, dass ich überhaupt eine Arbeitsstelle habe. Es gab eben auch die Zeit, in der ich ohne Arbeit dastand und mir nichts mehr gewünscht hatte als einen ordentlichen Job. Ich wollte nach meinem Lehramtsstudium nicht an der Schule bleiben und auch die Finanzierung der Promotion wollte nicht so recht gelingen – all das bei einer wachsenden Familie. In dieser Situation ergab sich die Möglichkeit, bei ihm zu arbeiten. Es wäre in meinen Augen herzlos, nicht dankbar für den Job zu sein – und damit meinem Chef, der so viel dafür getan hat, dass es diesen Job überhaupt gibt. Ich bin außerdem dankbar, dass ich nicht darüber nachdenken musste, wie in Zeiten von Corona, als fast jede meiner Schulungen abgesagt wurde, das Geld reinkam. Ich konnte mich einfach darauf verlassen, dass es pünktlich auf meinem Konto war. Für all das möchte ich meinen Chef achten.
Diese Idee entspringt ehrlicherweise nicht aus meinem Inneren, auch ich bin von Natur aus motzig. Ich habe sie aus der Bibel. Darin fordert Paulus (in einem anderen Kontext, nicht bezogen auf die Arbeit) auf, die anzuerkennen, „die sich besonders für uns einsetzen und sich um uns kümmern und uns zurechtweisen. Wegen ihrer Mühe sollt ihr ihnen besondere Achtung und Liebe entgegenbringen.“ Doch auch konkret auf die Arbeit fordert er „uneingeschränkte Achtung und respektvolles Verhalten“ vor denjenigen, unter denen wir arbeiten. – Ich weiß, dies sind sehr undeutsche Gedanken, aber es wäre dennoch mal gut, darüber nachzudenken.